Viele meiner Kinder in der Praxis haben Lese- und/oder Schreibschwierigkeiten – deshalb kommt auch immer wieder bei Vorträgen oder in der Praxis die Frage, ob Reflexintegration auch bei Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) Fortschritte bringen kann.
Die Hauptmerkmale einer Lese- und Rechtschreibstörung
ist nach internationaler Klassifikation der WHO „eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist….. Bei umschriebener Lesestörung sind Rechtschreibstörungen häufig…. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig.“
Bevor ich auf einen Zusammenhang von LRS und Restreaktionen frühkindlicher Reflexe eingehe, ist zunächst noch zwischen Legasthenie und LRS zu unterscheiden: Die Ursache der Legasthenie ist genbedingt, durch Vererbung und Anlage, sie kann jedoch auch verstärkt werden durch psychische, physische oder familiäre Ursachen sowie Lerndefizite oder Minderbegabung, was wiederum die LRS kennzeichnet.
Frühkindliche Reflexe
Dorothea Beigel, die seit 1998 mit dem Reflexintegrations-Programm arbeitet, schreibt in ihrem Buch „Flügel und Wurzeln“:
„Bei nahezu allen Kindern, die uns bisher mit Lese-, Schreib- und Rechtschreibschwäche vorgestellt wurden, waren in der Diagnostik deutliche ATNR-Reaktionen zu ersehen.“
Die ersten
frühkindlichen Reflexe
entstehen bereits in der 5. - 8. Schwangerschaftswoche – sie statten uns schon im Mutterleib mit einem primitiven, aber lebensnotwendigen Bewegungstraining aus, helfen bei der Geburt und sind im ersten Lebensjahr maßgeblich beteiligt an der motorischen Entwicklung des Kindes. Bleiben Restreaktionen frühkindlicher Reflexe jedoch über das erste Jahr hinaus bestehen, können sie bei einer Häufung Entwicklungsverzögerungen und/oder Verhaltensauffälligkeiten verursachen und zu Lernstörungen führen.
Das ist auch der Grund, warum frühkindliche Reflexe – die sehr früh in der Entwicklung des Kindes entstehen – Jahre später mitverantwortlich für schulische Lernprobleme sein können.
Der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex als eine Ursache von Leseschwierigkeiten
In Dorothea Beigels oben zitierten Satz ist nun bei LRS vor allem vom Asymmetrisch Tonischen Nackenreflex (ATNR) die Rede, der sehr starke Auswirkungen auf die Lese- und Schreibfertigkeit eines Kindes haben kann.
Der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex entsteht um die 16. - 18. Schwangerschaftswoche. Er erleichtert Bewegungen des Fötus, unterstützt den Geburtsprozess, hilft zu rotieren, in den ersten Monaten den Muskeltonus aufzubauen sowie die Auge-Hand Koordination zu entwickeln, was eine wichtige Voraussetzung fürs (Ab-)Schreiben ist.
Der ATNR wird auch Fechterstellung genannt: Wenn der Säugling den Kopf auf eine Seite dreht, strecken sich Arm und Bein auf dieser Seite, während sich Arm und Bein auf der Hinterhauptsseite beugen.
Bleibt das Bewegungsmuster „stecken“, müssen die Kinder auch später bei der Kopfdrehung auf die Seite immer gegen diese Muskelreaktion ankämpfen, was sehr viel an kompensatorischer Gegenleistung erfordert – das Kind muss also permanent dagegen arbeiten, dass sich bei einer Kopfdrehung nicht auch der Arm mitstreckt. Diese Kompensation wirkt sich häufig massiv auf die Hals- und Schultermuskulatur aus – die Kinder sind sehr verspannt, haben oft sogar eine steife Körperseite und klagen über Kopf- und Nackenschmerzen. Meist zeigt sich eine verzögerte motorische Entwicklung und die Überkreuzung der Körper-Mittellinie ist erschwert, was sich aufs Schreiben auswirkt. Sie schreiben ungern, weil sie sich so verkrampfen, und haben dadurch einen starken Druck auf den Stift, was sich wiederum negativ aufs Schriftbild auswirkt.
Der ATNR wirkt sich aber nicht nur auf den Körper aus, sondern auch auf den Lernerfolg. Durch die kompensatorische Arbeit muss ständig Aufmerksamkeit abgezogen werden, weshalb man bei den Kindern beobachten kann, dass sie Gelesenes nicht inhaltlich wiedergeben können, sie haben eine schlechte Auge-Hand-Koordination, was dazu führt, dass sie beim Lesen und (Ab-)Schreiben Probleme haben oder sehr langsam sind. Sie entwickeln auch keine eindeutige Augendominanz, daraus folgt, dass sie Wörter verdrehen oder Buchstaben vertauschen (b/d, p/q).
Hier zeigt sich die Verbindung zur LRS, da gerade in der Vorgeschichte der LRS bei Kindern häufig Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Motorik beobachtet werden – das überschneidet sich sehr stark mit Auffälligkeiten einer
Neuromotorischen Unreife
– den vorher erwähnten gehäuften Restreaktionen frühkindlicher Reflexe, wobei hier auch andere Reflexe eine Rolle spielen.
Studie über Zusammenhang von ATNR mit Leseschwierigkeiten
Im Jahr 2000 wurde in England eine Studie (veröffentlicht in The Lancet, Vol.335, Nr. 9203) mit Kindern im Alter von acht bis elf Jahren durchgeführt, bei der Restreaktionen des ATNR als Ursache von Leseproblemen untersucht wurden. Die Kinder hatten alle eine gute Intelligenz (I.Q. 85-115), aber trotzdem Leseschwierigkeiten. Ursprünglich geplant waren vier Gruppen – eine Gruppe mit einem spezifischen Reflex-Bewegungsprogramm, eine Gruppe mit unspezifischen Übungen und eine Kontroll-Gruppe ohne Bewegungsprogramm. In der angedachten vierten Gruppe sollten Kinder mit Leseschwierigkeiten, aber ohne Restreaktionen des ATNR kommen; diese Gruppe kam jedoch gar nicht zustande, da alle Kinder deutliche Restreaktionen des ATNR zeigten.
Das bestätigt auch die Beobachtungen von Dorothea Beigel in der praktischen Arbeit. Der ATNR kann demnach als zumindest eine Ursache für Leseschwierigkeiten ausgemacht werden.
Fazit:
Frühkindliche Reflexe – in erster Linie der ATNR - können als physische Ursache ein Problemfeld bei Lese-Rechtschreib-Schwäche sein. Reflexintegration – mit Zielintegration des ATNR - sollte insbesondere dann angedacht werden, wenn die Trainings oder Fördermaßnahmen – gemessen am Aufwand – nicht den gewünschten Erfolg erzielen. In so einem Fall kann es sicher sinnvoll sein, das Reflexprofil des Kindes anzusehen.
Umgekehrt kann Reflexintegration bei LRS auch eine Anfangsmaßnahme als Wegbereiter für aufbauende Spezialtrainings sein.