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Kann eine Sportskanone einen schlechten Gleichgewichtssinn haben?

Eva Fernsebner-Hammer • 31. Oktober 2019
Gleichgewichtssinn und frühkindliche Reflexe

Der Junge (8) ist sehr ungeschickt – viele Kinder meiden ihn, weil er so tollpatschig ist. Er rettet sich in die Kasperlrolle, um nicht völlig ins soziale Abseits zu kommen.
Das Mädchen (6) war schon als kleines Kind sehr zurückhaltend und übermäßig ängstlich. Motorisch war sie unsicher und begann immer mehr Bewegungsangebote zu vermeiden.
Ein anderer Junge (11) ist sehr sportlich, er spielt Fußball und Tennis. Ständig ist er in Bewegung – auch in der Schule. Still zu sitzen oder sich auf etwas zu konzentrieren, fällt ihm sehr schwer.

Sportlichkeit und Gleichgewichtssinn
Meistens ist das Erstaunen von Seiten der Eltern groß, wenn ich bei Vorträgen oder Workshops die Auswirkungen einer Neuromotorischen Unreife erläutere und dann die Vermutung äußere, dass das Kind möglicherweise neben Restreaktionen frühkindlicher Reflexe (Mehr Infos lesen) auch einen schlechten Gleichgewichtssinn haben könnte. Das Erstaunen schlägt schnell in Ungläubigkeit um, wenn Kinder sehr sportliche sind.
Denn – ist das überhaupt möglich?? Kann eine Sportskanone überhaupt Probleme mit dem Gleichgewichtssinn haben?
Um es kurz zu machen: Ja, das kann sein!

Der Gleichgewichtssinn
Zunächst muss man festhalten, dass der Gleichgewichtssinn eng mit den frühkindlichen Reflexen verbunden ist. Beides beeinflusst sich gegenseitig, hat Wechselwirkungen; integrieren sich frühkindliche Reflexe gut, profitiert der Gleichgewichtssinn und umgekehrt. Werden frühkindliche Reflexe nicht gut in höhere Gehirnstrukturen (komplexe Bewegungsabläufe) integriert, kann auch der Gleichgewichtssinn nicht einwandfrei „arbeiten“. Deshalb ist Neuromotorische Unreife auch definiert als eine Häufung von Restreaktionen frühkindlicher Reflexe zusammen mit einem mangelnden Gleichgewichtssinn.
Überhaupt ist der Gleichgewichtssinn ein Stiefkind unter den Sinnen. In Zeiten eines visuellen (sehen) und auditiven (hören) Overflows – wo wir praktisch eine Dauerberieselung erfahren – sind wir uns unserer so genannten Basissinne und ihrer wichtigen Rolle für unser ganzes Leben wenig bis gar nicht bewusst.
Zu den Basissinnen zählen wir neben dem Gleichgewichtssinn den Berührungssinn und die (Vorsicht – die Aussprache gelingt oft erst nach etwas Übung!) Propriozeption. Das Wort kommt aus dem Lateinischen - „proprius“ bedeutet „eigen“ und „recipere“ „aufnehmen“ – also die Eigen-Wahrnehmung von Körperbewegung und -lage im Raum.
Während mit dem Berührungssinn die Oberflächensensibilität der Haut gemeint ist, kann die Propriozeption als Tiefensensibilität bezeichnet werden. Auch damit können wir nicht immer gleich etwas anfangen. Wir spüren nicht nur oberflächliche Sinneseindrücke auf der Haut, sondern wir spüren auch in unserer Tiefe etwas: nämlich den Zug oder Druck auf unsere Muskeln, Sehnen und Gelenke. Ist diese Eigenwahrnehmung beeinträchtigt, haben Kinder (genauso Erwachsene natürlich) eine schlechte Vorstellung von ihren Körpergrenzen (auch Körperschema genannt).
Allein dass wir mit diesen Begriffen wenig anfangen können, zeigt uns, dass unsere Basissinne meist ein Schattendasein führen.
Genauso verhält es sich auch mit dem Gleichgewichtssinn. Meist ist er uns nicht bewusst. Er meldet ständig unsere Raum-Lage ans Gehirn. Wo befinden wir uns? Wo ist der Kopf im Verhältnis zum Körper?
Die Begründerin der Sensorischen Integration Jean Ayres bezeichnete diesen Sinn als das all vereinende Bezugssystem. Bezugspunkt ist die Schwerkraft, der ausnahmslos alle Lebewesen unterliegen, sie ist eine fundamentale Quelle für Sicherheit und Orientierung. Wirklich bewusst wird uns das erst, wenn uns schwindelig oder sogar schlecht wird nach schnellen Drehbewegungen oder heftigem Schaukeln.

Welche weitreichenden Folgen diese mangelnde Orientierung haben kann, zeigt das Phänomen der „Weltraum-Legasthenie“. Wenn Astronauten im All plötzlich nicht mehr der Schwerkraft unterliegen, beginnen manche in Spiegelschrift oder von rechts nach links zu schreiben oder Buchstaben zu vertauschen – Grund ist die mangelnde Orientierung, die durch den Wegfall des Bezugssystems entsteht.

Aber zurück zur Erde – auch hier können die Auswirkungen eines mangelnden Gleichgewichtssinnes vielfältig sein:
Motorik
    Ungeschicklichkeit
    Stolpern, Hinfallen
    Trägheit oder Unruhe
    Hypotonie oder Hypertonie (zu schwacher bzw. starker Muskeltonus)

Verhalten
    Angst und Unsicherheit
    Unangemessenes Verhalten (z.B. kaspern)
    Konzentrationsstörungen
    Vermeidungsstrategien

Lesen
    Schlechte Augenfolgebewegungen
    Buchstaben, Wörter werden vertauscht
    Zeilen verschwimmen

Rechnen
    Zahlendreher
    Mangelnde Raumvorstellung

Nun aber zurück zur Ausgangsfrage: Sportlichkeit und ein mangelnder Gleichgewichtssinn schließen sich nicht zwangsläufig aus.
Beim Sport brauche ich vorwiegend das so genannten dynamische Gleichgewicht – das ist der Gleichgewichtserhalt in der Bewegung – das statische Gleichgewicht hingegen ist der Gleichgewichtserhalt in Ruhe – ein perfekter Gleichgewichtssinn drückt sich im absoluten Stillstehen aus – wohlgemerkt im normalen Stehen und nicht wie viele irrtümlich glauben im Einbeinstand oder beim Einbeinhüpfen. Dieses statische Gleichgewicht entwickelt sich erst mit ca. 5 Jahren und ist eine wichtige Voraussetzung für die Schulreife, weil es elementar fürs Stillsitzen und in weiterer Folge für Aufmerksamkeitssteuerung und Konzentration ist.
So kann es also tatsächlich sein, dass jemand sehr sportlich ist und trotzdem in der Schule Probleme mit der Aufmerksamkeit hat, sehr unruhig ist, nicht still sitzen kann oder Lernschwierigkeiten hat.
So findet man bei einer Neuromotorischen Unreife häufig einen mangelnden Gleichgewichtssinn.

Was kann man tun??

Im Alltag lässt sich der Gleichgewichtssinn von früh weg stimulieren:
  • Kind tragen, schaukeln, wiegen
  • Kniereiterspiele
  • klettern, rollen, kullern und purzeln
  • (Klein-)Kinderturnen
  • Hängematte, Schaukel, Wippe,….
  • Schaukelpferd, Drehstuhl
  • Laufrad, Roller, Fahrrad
  • Balancieren (Baumstämme im Wald, Mauer, Steine,….)
  • reiten, schwimmen, turnen, Rollschuh/Schlittschuh/Fahrrad fahren, skaten, tanzen, klettern,…
  • Rollbrett, Trampolin
  • Sitzball, Sitzkissen, Ballkissen, Drehstuhl als Alternative zum Sitzen auf dem Stuhl

Bei großen Unsicherheiten, wie ich sie eingangs in den Beispielen genannt haben, ist eine Austestung auf Neuromotorische Unreife anzuraten. Diese lässt sich vorab mit einem eigens konzipierten Fragebogen schon recht sicher ausmachen.


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